Gastkommentar

Digitale Demokratie verlangt Pioniergeist

Bund und Kantone sind gefordert, die digitale Demokratie weiterzuentwickeln. Eine eindimensionale Risikofokussierung ist nicht zielführend.

Peter Grünenfelder
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 (Bild: Laurent Gillieron/Keystone)

(Bild: Laurent Gillieron/Keystone)

Vor 32 Jahren, am 4. September 1983, entschieden die Zürcher Stimmberechtigten über ein revidiertes Wahlgesetz. Der ursprünglich vom Regierungsrat vorgelegte, «revolutionärste» Vorschlag war die Ermöglichung der brieflichen Stimmabgabe. Die sogenannte «Briefkastenabstimmung» wurde schliesslich in den parlamentarischen Beratungen verworfen, weil man Stimmrechts-Missbräuche befürchtete. Und am 11. Juni 1985 berichtete der NZZ-Bundeshauskorrespondent, dass der Bundesrat trotz Fürsprache von 14 Kantonen auf die Revision des Auslandschweizergesetzes verzichte, das die briefliche Stimmabgabe von Auslandschweizern vorgesehen habe. Die briefliche Stimmabgabe wurde erst zu Beginn der 1990er Jahre eingeführt. Die aktuellen Fakten: Im Jahr 2015 wird der briefliche Abstimmungskanal von den stimm- und wahlberechtigten Schweizern im Inland zu rund 90 Prozent genutzt.

Rege Nutzung

25 Jahre nach Einführung der brieflichen Stimmabgabe beschied der amtierende Bundesrat dem aus 9 Kantonen bestehenden Consortium Vote électronique, dass ihm trotz mittlerweile 17 erfolgreichen elektronischen Urnengängen für die Nationalratswahlen vom 18. Oktober 2015 keine Bewilligung für die Nutzung des elektronischen Stimmkanals erteilt werde. Nur gerade die Kantone Genf, Basel-Stadt, Luzern und Neuenburg erhielten die Bewilligung, deren elektronische Stimmabgaben auf zwei anderen IT-Systemen basieren. Begründung für den Ausschluss des Consortium: Es bestehe eine Lücke beim Schutz des Stimmgeheimnisses. Die aktuellen Fakten: Von den bisher E-Voting-berechtigten 100 000 Auslandschweizern wurde der elektronische Stimmkanal bereits wenige Jahre nach seiner Einführung bis zu 70 Prozent genutzt.

Weniger fehlerhafte Stimmen

Der Ärger der betroffenen Consortial-Kantone war unüberhörbar, ebenso die geharnischte Reaktion der Auslandschweizer. Kritisiert wurde, dass das hypothetische Risiko einer Verletzung des Stimmgeheimnisses beim elektronischen Abstimmen höher gewichtet wurde als das Risiko, dass ob des bundesrätlichen Entscheids mit der brieflichen Stimmabgabe zahlreiche Auslandschweizer ihre Stimme nicht werden rechtzeitig abgeben können. Ungeachtet blieb beim ablehnenden Entscheid auch das Kriterium der Gültigkeit der Stimmabgabe: Bei den Nationalratswahlen 2011 waren gegen drei Prozent der brieflichen Stimmabgaben im Inland ungültig – die elektronische Stimmabgabe schliesst dagegen fehlerhafte Stimmen dank Plausibilisierung während des Abstimmungsvorgangs automatisch aus. Die Verordnung des Bundes zu Vote électronique listet in einem Anhang von 30 Seiten detaillierteste Vorgaben auf, obwohl das Wählersegment der primär anvisierten Auslandschweizer im tiefen einstelligen Prozentbereich liegt. Bei der brieflichen Stimmabgabe existiert dagegen kein derartiger Forderungskatalog, die Umsetzung wird den Kantonen überlassen, die lediglich für ein einfaches Verfahren zu sorgen haben. Legten die Bundesbehörden heutzutage die gleichen Massstäbe zur Wahrung des Stimmgeheimnisses bei der brieflichen Stimmabgabe an, wäre diese wohl 25 Jahre nach ihrer Einführung auch nicht mehr bewilligungsfähig.

Bund und Kantone in der Pflicht

Trotz diesem – temporären – Rückschritt ist die Entwicklung hin zur digitalen Demokratie weiterzuverfolgen. Zum einen sind die Kantone gefordert, sie bleiben die Taktgeber bei der Entwicklung von E-Voting – die digitale Demokratie kann sich in der föderalen Schweiz nur evolutiv entwickeln, auch wenn die digitale Revolution immer mehr Lebensbereiche umfasst. Die Kantone stehen in der Pflicht, die demokratische Partizipation der Auslandschweizer wieder voll zu gewährleisten. Dazu braucht es einen Wettbewerb der Systeme, wie es derzeit mit der Eigenentwicklung des Kantons Genf und des Systems des Kantons Neuenburg mit einem privaten spanischen Anbieter der Fall ist; bei Letzterem plant die Schweizerische Post den Einstieg. Aus Kostengründen, aber auch aus Gründen der unterschiedlichen Ausgestaltung der Wahlsysteme in den Kantonen ist eine einzige Monopollösung zu vermeiden.

Beide welschen System-Kantone müssen dafür besorgt sein, den interessierten Kantonen den Zugang zu Vote électronique zu annehmbaren Bedingungen zu ermöglichen. Zum anderen sind auch die Bundesbehörden gefordert: Hier ist ein pragmatischerer Umgang mit den neuen Technologien nötig, sonst wird die Weiterentwicklung der Demokratie im digitalen Zeitalter blockiert. Insbesondere gilt es, den Grundsatz der Verhältnismässigkeit zu beachten. Eine eindimensionale Risikofokussierung ist nicht zielführend, vielmehr gilt es, diese gegenüber Chancen und Nutzen der neuen Technologien für die Demokratie differenziert abzuwägen. Zu einem Pionierprojekt wie Vote électronique gehört Pioniergeist – selbst dann, wenn es heikle Bereiche wie die Ausübung der demokratischen Rechte betrifft.

Peter Grünenfelder leitet die Staatskanzlei des Kantons Aargau und ist Präsident der Schweizerischen Staatsschreiberkonferenz.